Marte Cormann - Schreiben mit Herz Marta Walden - Historische Romane
Marte Cormann - Schreiben mit HerzMarta Walden -  Historische Romane

 

Leseprobe - Buchauszug:

 

Mut ist die Blume in der Finsternis

 

Eine Frau zwischen Liebe, Hass und Hoffnung

 

Historischer Roman

 

  

von
Marta Walden

 

 

 

 

2. Auflage, 2025

© Marta Walden – alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Leseprobe darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Autorin und Herausgeberin reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.

 

 

 

 

Prolog

Herbst 1880
Italien, am Rande von Tivoli, auf dem Gut des Padrone Massimo Valioni

 

»Feuer! Die Scheune brennt!«

Mitternacht war längst vorbei, als der schrille Alarmruf die nächtliche Stille zerriss, in der Massimo Valioni und Anna ihr heimliches Glück teilten. Sekunden später war Massimo auf den Beinen, das Herz hämmerte wild in seiner Brust. Die Fensterläden schlugen krachend gegen die Hauswand, als er sie aufstieß und der Anblick des infernalischen Feuers ihm den Atem nahm.

Die hintere Scheune brannte lichterloh. Die Flammen verschlangen alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Die Nacht war erfüllt vom beißenden Gestank des Rauches, der in sein Zimmer drang und ihm die Tränen in die Augen trieb. Massimos Herz krampfte sich zusammen, als er sah, wie aus allen Richtungen Menschen herbeieilten, ängstlich und entschlossen zugleich, um denen zu helfen, die im Schlaf von den Flammen überrascht worden waren. Ihre verzweifelten Schreie vermischten sich mit den Befehlen seines Verwalters zu einem schrecklichen Chor. Massimo lehnte sich weit aus dem Fenster, um sich Gehör zu verschaffen und seine Befehle zu rufen.

»Achtet darauf, dass das Feuer nicht auf die benachbarte Scheune übergreift!«, schrie er mit brüchiger Stimme, das Licht des Feuers warf gespenstische Schatten auf sein Gesicht. Er dachte an die Weizenernte, die in den letzten Tagen mühsam eingebracht worden war. Der Gedanke an den nahenden Winter, seine Familie und alle, für die er Verantwortung trug, schnürte ihm die Kehle zu. Ohne den Erlös aus dem Verkauf würde es schwierig werden, über den Winter zu kommen.

Im Haus hörte er das leise Weinen der kleinen Elisa, seiner Tochter. Der Klang schnitt ihm ins Herz.

»Schnell, Anna. Ich will nicht, dass Giulia merkt, dass du bei mir bist«, murmelte er nervös, während seine Gedanken zu der Frau schweiften, mit der er verheiratet war. Ein flüchtiger Blick zurück ins Zimmer verriet ihm, dass Anna ihn bereits verlassen hatte, diskret und ohne ein weiteres Wort. Sie war gut im Verstecken. Für einen Moment spürte er schmerzhaft die Kluft zwischen ihnen. Aber die Dringlichkeit der Situation ließ ihm keine Zeit für Sentimentalitäten. Hastig schlüpfte Massimo in seine Hose, bevor er hinaus eilte, um die Löscharbeiten zu überwachen.

 

Zu den Tagelöhnern, die in dieser Nacht im Schlaf vom Ausbruch des Feuers überrascht wurden, zählte auch Giuseppe Lotti, ein Arbeiter aus den Abruzzen. Seine Angewohnheit, sich stets einen Schlafplatz in der Nähe des großen Scheunentores zu suchen, wurde häufig belächelt. Die meisten der Tagelöhner zogen es vor, ihr Lager im hinteren Teil der Scheune aufzuschlagen, dort, wo es wärmer war als unmittelbar vorne am Eingang, wo der Wind durch die Ritzen pfiff. Ihm machte die frische Luft nichts aus, im Gegenteil. Sie belebte seinen Geist und bereitete ihn darauf vor, die Arbeit auf den Feldern zu meistern.

In dieser schrecklichen Nacht war es das unheimliche Knistern der Flammen, die sich von der Rückseite der Scheune ihren Weg zu ihm bahnten, das Giuseppe aus dem Schlaf riss. Beißender Rauch raubte ihm den Atem und die Sicht. Er wusste, dass er keine Zeit zu verlieren hatte. Der Schlafplatz in unmittelbarer Nähe des Tores war jetzt sein größter Vorteil. Mit einem Satz sprang er von seinem improvisierten Lager auf die Beine. Als er die Klinke des Tores ergriff, war der Raum hinter ihm bereits von dem bedrohlichen Feuer erfüllt. Giuseppe stieß die Tür auf. Er spürte die Hitze der Flammen hinter sich, die mit jedem frischen Windstoß an Kraft gewannen. Hustend und blind vor Rauch stolperte er ins rettende Freie, wo er sich ins feuchte Gras fallen ließ und frische Luft in seine schmerzenden Lungen zog. Erst jetzt nahm er die Todesschreie der Menschen wahr, die wie er in der Scheune Schutz gesucht hatten. Noch vor wenigen Stunden hatten ihn ihr Lachen und ihre Geschichten in den Schlaf begleitet. Sein Entsetzen trieb ihn wieder auf die Beine.

Giuseppe kämpfte sich durch die erstickende Luft voll mit giftigem Rauch und dem Gestank von verbranntem Fleisch, während er versuchte, anderen zu helfen. Um ihn herum herrschte Panik und Verzweiflung. Das Bild der Menschen, die schockiert und verwirrt aus dem brennenden Gebäude stürzten, nur um von den Flammen erneut erfasst zu werden, brannte sich schmerzhaft in sein Gedächtnis ein. Er sah einen Mann, der in dem verzweifelten Versuch, seine Frau zu retten, zurück in das lodernde Inferno stürzte.

»Komm zurück!«, rief Giuseppe, doch seine Stimme wurde von dem infernalischen Lärm erstickt. Und da war das Kind, dessen weinendes Flehen er hörte, ein zartes Wesen, das verloren und allein durch die Nacht irrte. Giuseppe brach es das Herz.

»Nicht das Kind!«, rief er, aber es war schon zu spät. Die Flammen schlugen hoch und schienen alles zu verschlingen, was sich ihnen in den Weg stellte. Unfähig, mehr zu tun als hilflos zuzusehen, fühlte er sich wie in einem Alptraum gefangen, aus dem es kein Entkommen gab.

»Was kann ich tun?«, murmelte er zu sich selbst. Er packte sich den leblosen Körper eines jungen Mannes, der viel zu nah an der brennenden Scheune lag und schleppte ihn in die Sicherheit der feuchten Grasnarben. Seine eigene Hilflosigkeit erdrückte ihn.

 

Die Scheune war nicht mehr zu retten. Mehr als zwei Drittel der Menschen, die dort, dankbar für die kostenlose Unterkunft, übernachtet hatten, waren umgekommen. Giuseppe Lotti zählte zu den wenigen, die überlebt hatten. Gierig griff er nach dem Becher mit Wasser, den man ihm reichte, stellte ihn aber schnell wieder weg. Seine zitternden Hände konnten das Getränk kaum zu den Lippen führen, und jeder Schluck verursachte ihm höllische Schmerzen. Nur undeutlich nahm er wahr, was um ihn herum geschah. In seinen Ohren hallten die Schreie der Unglücklichen wieder, die es nicht geschafft hatten, sich zu retten. Mit aufgewühltem Blick starrte er zu dem leblosen Burschen hinüber, der nur wenige Schritte von ihm entfernt im Gras lag. Vom Alter her könnte er einer seiner eigenen Söhne sein. Giuseppe hatte es nicht über sein Herz gebracht, ihn seinem Schicksal zu überlassen. Doch mehr konnte er nicht für ihn tun.

Erschöpft schloss Giuseppe die Augen. Er dachte an Pietro, Luigi und die kleine Rosetta, seine Kinder, und an Rosa, seine tapfere Ehefrau. Gleich am Morgen würde er seinen Lohn beim Verwalter abholen und danach sofort aufbrechen. Er hatte die Warnung des Schicksals verstanden. Ein zweites Mal würde es ihn nicht verschonen. Er gehörte zu seiner Familie in die Berge, wo sie sicher schon sehnsüchtig auf ihn warteten. Er würde sich eine andere Arbeit suchen, näher an seinem Heimatdorf, um mehr Zeit mit seinen Kindern verbringen zu können. Vor allem Pietro, sein Ältester, war in einem Alter, in dem er seinen Vater brauchte.

»Was ist passiert? Wer von euch hat das Feuer zu verantworten?« Herrisch schallte die Stimme des Padrone über den Hof.

Mit Anstrengung hob Giuseppe die schweren Augenlider. Verschwommen nahm er Massimo Valioni wahr, der sich mit schnellen Schritten der kleinen Gruppe von Überlebenden näherte. Giuseppe spürte die Schmerzensqualen in seinem Körper – jeder Atemzug war eine Herausforderung, als ob unsichtbare Ketten ihn daran hinderten, sich zu bewegen. Er fühlte sich wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln, hilflos und verloren.

Im Schein der Laternenleuchten kam Massimo Valioni heran, gefolgt von seinem Verwalter und anderen Männern, die tagsüber auf den Feldern die Arbeiter beaufsichtigten. Einer von ihnen trug ein Gewehr über der Schulter. Als ob die Toten und Verletzten noch eine Gefahr darstellten. Mit finsterer Miene betrachteten sie den Schaden, den das Feuer angerichtet hatten.

Das Atmen fiel Giuseppe schwer. Aufsteigende Übelkeit überwältigte ihn und zu entkräftet, um sich rechtzeitig zur Seite zu drehen, erbrach er sich auf seine rußgeschwärzte Kleidung. Ekel durchfuhr ihn, verstärkt durch die Scham, in einem solch erbärmlichen Zustand vor seinem Padrone zu liegen.

»He, du!«, rief der Mann mit dem Gewehr und richtete dessen Lauf auf Giuseppe. »Der Padrone hat euch etwas gefragt. Antworte gefälligst!«

Giuseppe starrte ihn verständnislos an, sein Verstand verweigerte ihm den Dienst. In seinen Ohren rauschte das Blut wie ein reißender Wildbach. Wieder drehte sich ihm der Magen um. Alles schwirrte vor seinen Augen, die Gesichter seiner Familie blitzten vor seinem inneren Auge auf - Rosa, die ihn liebevoll ansah, und die Kinder, die in den vertrauten Winkeln ihres Hauses spielten.

Ein paar Schritte von ihm entfernt tauschte Massimo leise Worte mit seinem Verwalter aus. Sie betrachteten die vom Feuer gezeichneten Menschen. Männer und Frauen, die mehr tot als lebendig zu sein schienen. Giuseppe war der Einzige, der noch halbwegs ansprechbar schien. Aber auch von ihm würden sie keine Antwort auf Massimos Frage erhalten, so viel begriffen sie.

»Ich habe nach dem Arzt rufen lassen. Er wird sich eure Verletzungen ansehen und medizinisch versorgen, sofern es notwendig ist. Auch mit Essen und Trinken werdet ihr reichlich versorgt«, kündigte der Verwalter an. Ihm war nicht wohl bei dem, was er als Nächstes zu sagen hatte, doch ein Blick auf Massimos grimmige Miene ließ ihm keine Wahl.

»So ein Feuer entsteht nicht ohne Grund«, fuhr er fort.

»Der Padrone hat euch selbstlos in der Scheune übernachten lassen, ohne dass ihr dafür zahlen musstet. Durch den Brand ist ihm ein hoher Schaden entstanden. Eine neue Scheune muss aufgebaut werden.«

»Lohn?« Nur ein röchelndes Krächzen kam über Giuseppes Lippen, während sich das Bild seiner Familie erneut vor seine Augen drängte. Rosa war auf ihn angewiesen, ebenso die Kinder.

»Es gibt hier keinen Platz mehr für euch zum Wohnen und Übernachten. Sobald ihr versorgt seid, werdet ihr deshalb das Gut verlassen, gleich morgen Vormittag. Einen Lohn werden wir euch nicht auszahlen können. Das Geld wird gebraucht, um die zerstörte Scheune wenigstens zum Teil wieder aufzubauen. Ich hoffe, ihr versteht dies.«

Giuseppe fühlte, wie ein kalter Schauer ihm über den Rücken lief. Seine und die Existenz seiner Familie hing von dem Lohn ab, den der Padrone ihm schuldete. »Das ... das kann nicht sein«, stammelte er, die Verzweiflung schnürte ihm die Kehle zu. Der Padrone durfte ihm den Lohn nicht verweigern. Wie sollten sie ohne das Geld überleben? Er hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen. Mit dem Feuer hatte er nichts zu tun. Es war nicht gerecht.

Unter Aufbietung aller seiner verbliebenen Kräfte stemmte Giuseppe seinen Körper in die Höhe. Die schmerzhaften Verletzungen, die er bei dem Versuch zu helfen erlitten hatte, erschwerten jede seiner Bewegungen. Doch er wollte es schaffen, um Massimo Valioni in die Augen sehen zu können. Blind vor Anstrengung fand er Halt an einer Heugabel, die jemand achtlos in seiner Nähe in den Erdboden gerammt hatte. Schwer stützte er sich darauf. Unter seinem Gewicht drohte das Werkzeug nachzugeben. Er taumelte, fand Halt, nahm einen weiteren Atemzug, der ihm die Lunge schier zu zerreißen drohte.

»Padrone!« Ein verzweifeltes Flehen, mehr nicht. »Ich brauche meinen Lohn!«

»Bleib stehen!«

Doch Giuseppe durfte nicht stehen bleiben. Er musste dem Padrone in die Augen sehen, ihm sagen, was seine Familie brauchte. »Bitte… für meine Kinder.«

»Bleib stehen oder ich schieße!«

Entschlossen kämpfte sich Giuseppe weiter voran, mit der Heugabel in der Hand.

»Bleib endlich stehen!«

Giuseppe Lotti blieb nicht stehen. Seine ganze Not offenbarte sich in einem letzten tierischen Schrei der Verzweiflung, laut und gebrochen.

Der tödliche Schuss traf ihn mitten ins Herz. Um ihn herum wurde es dunkel. Einen Augenblick später fiel sein sterbender Körper zu Boden, das Gesicht in den Staub gesenkt, während die Stille der Nacht alles andere überdeckte.

 

 

 

Teil I

 

1898 – 1900

 

Kapitel 1

10. September 1898
  Tivoli, auf dem Gut von Massimo Valioni

 

Kerzengerade, mit erhobenem Kopf, stand die zweiundzwanzigjährige Elisa Valioni auf einem kleinen Schemel. Ihr Blick war auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, auf das sanfte Licht, das durch das Fenster fiel. Die aufsteigende Nervosität ließ sie kaum atmen. Heute war nicht irgendein Tag. Es war der Tag ihrer Verlobung. Die Atmosphäre im Haus war von einer spürbaren Aufregung geprägt, denn dieses Fest war nicht nur eine private Feier, es war ein gesellschaftliches Ereignis ersten Ranges, das für die Familie Valioni, für die umliegenden Anwesen und sogar für ganz Tivoli von höchster Bedeutung war. Ihr Vater Massimo hatte über hundert der angesehensten und einflussreichsten Familien und Persönlichkeiten der Region eingeladen. Die Erwartungen an Elisa waren hoch, und sie spürte den Druck. Umberto de Rosa – ein Name, der in den besten Kreisen Strahlkraft besaß. Die Welt schien ihm zu Füßen zu liegen. Dennoch kämpfte sie in ihrem Herzen auch mit tiefer Verunsicherung. Was bedeutete es, an der Seite eines Mannes zu leben, den sie kaum kannte?

Zu ihren Füßen kniete Anna, ihr Kindermädchen von Geburt an. Es gab keinen Menschen auf der Welt, von dem Elisa in ihrem Leben mehr Liebe, Vertrauen und Unterstützung erfahren hatte als von ihr, ihre Eltern Massimo und Giulia eingeschlossen. Anna hatte sie noch niemals im Stich gelassen. In diesem Moment steckte sie mit geschickten Fingern den Saum des eleganten grünen Seidenkleides um, das Elisa bei ihrer Verlobungsfeier mit Umberto de Rosa tragen würde. Anna musste sich beeilen, wenn sie noch rechtzeitig bis zum Abend mit dem Saum fertig sein wollte.

»Dein Vater hat eine gute Wahl für dich getroffen. Umberto de Rosa zählt zu den besten Partien des Landes. Er wird gut für dich sorgen.«

Doch Elisa schwieg, ihre Gedanken kreisten um ihre ungewisse Zukunft als Ehefrau und Mutter. Anna, die sie besser als jeder andere Mensch kannte, unterbrach ihre Arbeit und hob den Kopf. Prüfend musterte sie die junge Frau.

»Was beschäftigt dich, Elisa?«

In einem Anflug von Verzweiflung beugte sich Elisa auf der Suche nach Trost leicht vor, doch Anna wiegte sanft den Kopf.

»Rücken gerade, Kopf nach oben, Elisa«, mahnte sie. »Du kennst doch die Regel.«

Gehorsam richtete Elisa sich auf. Rücken gerade, Kopf nach oben. Diese einfache Regel schärfte Anna ihr seit ihrer Kindheit ein. Eine Lehre, die sie vorbereiten sollte auf das, was kommen würde. Zeig anderen niemals, wie es hier drinnen aussieht, hatte Anna oft gesagt und dabei auf ihr Herz gezeigt. Die Menschen sind wie Tiere. Wenn sie Schwäche wittern, greifen sie an.

Elisa kämpfte tapfer gegen die aufsteigenden Tränen an.

»Versprichst du mir, dass es richtig ist, Umberto zu heiraten?«, fragte sie mit belegter Stimme.

Anna nahm aus ihrem Nähkasten eine neue Dose mit Stecknadeln und begann, sie in das gepolsterte Nadelkissen am Handgelenk zu sortieren.

»Wer weiß schon, wie sich die Dinge im Leben entwickeln werden«, antwortete sie nach einer nachdenklichen Pause.

»Aber es wäre ein Fehler, ihn nicht zu heiraten. Er ist wohlhabend, sieht gut aus. Einen besseren Mann findest du so schnell nicht.«

»Er ist mir fremd, Anna. Ich kenne ihn kaum. Was mache ich, wenn wir feststellen, dass wir nichts gemeinsam haben? Wenn wir nicht miteinander reden oder zusammen lachen können?«

»Ihr seid euch sympathisch. Das ist eine gute Grundlage.«

»Aber was, wenn es nicht reicht?« In Elisas Stimme schwang eine tief wurzelnde Angst mit.

»Dann erfüllst du trotzdem deine weibliche Pflicht, so, wie es jede anständige Frau an deiner Stelle tun würde.«

Der Gedanke an ihre Mutter Giulia drängte sich Elisa auf.

»Meine Mutter war nicht sehr erfolgreich in der Erfüllung ihrer Pflicht. Sie hat meinem Vater nur ein einziges Kind geboren. Und zu allem Unglück auch noch ausgerechnet ein Mädchen.«

Anna zögerte kaum merklich, ihr Gesicht verriet Besorgnis.

»Ich mag es nicht, wenn du so sprichst, Elisa. Dein Vater liebt dich, das weißt du.«

Elisa drehte den Kopf zur Seite. Durch das geöffnete Fenster erkannte sie draußen ihre Mutter Giulia, die mit einem Bastkorb über dem Arm den Weg in ihren geliebten Blumengarten nahm. Giulia, die unermüdliche Gärtnerin, die ihre Pflanzen mit Liebe und Hingabe pflegte. Der Garten war Giulias Rückzugsort, ein Ort der Sicherheit und des Friedens, und auch Elisa fühlte sich an diesem Ort geborgen.

»Wird es in meinem Leben jemals etwas anderes geben als Gehorsam, Pflicht und Verantwortung, so wie Vater es mir predigt?« In leisem Ton sprach Elisa mehr zu sich selbst als zu Anna. Draußen war Giulia aus ihrem Blickfeld verschwunden.

Am Kleidersaum fehlten nur noch wenige Nadeln. Als sie gesteckt waren, erhob sich Anna mit leisem Stöhnen aus ihrer gebückten Haltung.

»Sei mit deinem Vater nicht zu streng, Elisa. Er meint es nur gut mit dir.«

»Aber er lässt mir keine Wahl. In meiner Abschlussklasse waren Mädchen in meinem Alter, die noch nicht einmal ans Heiraten dachten. Stattdessen gingen sie nach Siena, um dort zu studieren.«

»Und das wünschst du dir auch? Du möchtest studieren?« Anna reichte Elisa die Hand, um ihr vom Schemel zu helfen.

»Tritt nicht auf den Saum. Sonst geht alles wieder auf.«

»Ich glaube nicht, dass ein Studium für mich das Richtige ist. Es fällt mir schwer, stundenlang stillzusitzen. Außerdem begreife ich vieles besser, wenn ich es selbst erlebe. Das Zuhören in der Schule hat mich nicht immer klüger gemacht.«

»Sprich nicht so, Elisa. Sonst könnte noch jemand auf den Gedanken kommen, dass du dumm bist. Aber das bist du weiß Gott nicht.«

Anna las in Elisas Gesicht, in dem sich die gegensätzlichen Gefühle ihres Schützlings widerspiegelten. Mitfühlend öffnete sie die Arme. Ohne zu zögern, schmiegte sich Elisa hinein. In ihrem Kopf verwirrten sich die Gedanken zu einem schier unauflösbaren Knäuel. Sie fühlte sich geehrt von der Wahl ihres Vaters, die ihr einen angesehenen Ehemann bescherte, doch was würde ihr die Ehe bringen? Wäre Umberto mehr als nur ein Name und gesellschaftlicher Status? Würde er in der Tiefe ihres Herzens einen Platz finden, den er sich verdient hatte?

»Glaub mir, Elisa, ich ahne, was du fühlst. Aber die Ehe mit Umberto de Rosa ist nicht das Ende deines Lebens. Du wirst an seiner Seite ein angenehmes und sorgenfreies Leben genießen können. Und wer weiß, vielleicht findet ihr sogar zueinander und werdet glücklich. Das ist weit mehr als viele Menschen von ihrem Leben erwarten können. Sei nicht undankbar.«

Langsam löste sich Elisa aus der Umarmung. Zärtlich drückte sie Anna einen Kuss auf die Wange.

»Kannst du nicht einfach mit mir zu Umberto ziehen? Vater wird nichts dagegen haben, wenn ich ihn darum bitte.«

»Du möchtest das doch auch?«, fügte sie hinzu, als sie Annas bestürzten Gesichtsausdruck wahrnahm. Im nächsten Moment hatte Anna ihre Gefühle wieder unter Kontrolle. Ihre Hände zitterten leicht, als sie Elisa eindringlich ansah.

»Sprich mit deinem Vater, wenn du es für nötig hältst. Aber vergiss niemals, wie stark du hier drinnen bist.« Ernst legte Anna ihre Hand auf Elisas Herz, als wollte sie all ihre Liebe und Kraft an sie weitergeben.

»Glaube mir, Elisa, selbst wenn der Weg steinig werden sollte, wirst du dein Leben auch ohne mich meistern können - egal, was geschieht.« Ihre Worte klangen wie ein sanfter Schutzschirm, den sie über Elisa zog, um sie gegen die Widrigkeiten des Lebens zu schützen.

Später, als Elisa längst den Raum verlassen hatte und der Saum des Verlobungskleides beinahe fertig umgenäht war, wurde Anna von ihrer eigenen Traurigkeit wie von einer ungebetenen Welle überrollt und mitgerissen. Unaufhaltsam strömten ihr die Tränen über das Gesicht und tropften auf den zarten Stoff des Kleides. Ein überwältigendes Zugeständnis an ihren eigenen Schmerz, den sie seit vielen Jahren in ihrem Herzen trug und den sie dort für immer als ein Geheimnis verschließen musste.

 

Kapitel 2

 

Die Sonne stand hoch, kein Wölkchen trübte den strahlend blauen Himmel. Für Ende September war es am späten Vormittag ungewöhnlich warm, während die Luft von einem süßen, herbstlichen Duft erfüllt war. Elisa dachte daran, dass am Abend ein zartes Tuch über den Schultern genügen würde, um sich vor dem kühlen Abendwind zu schützen. Plötzlich überkam sie der Drang, die Zeit vor dem großen Ereignis nicht im Haus zu verbringen, wo sich die Vorbereitungen für ihre Verlobungsfeier häuften. Stattdessen zog es sie hinaus in den Blumengarten ihrer Mutter, der um diese Tageszeit zum Teil in einem wohltuenden Schatten lag.

Üppig blühende Büsche säumten den geschwungenen Pfad, der zu Giulias kleinem Paradies führte. Dicht gedrängt bildeten sie einen natürlichen Sichtschutz, der den Garten vor neugierigen Blicken aus dem Haus schützte. Das emsige Summen fleißiger Bienen erfüllte die Luft und stand in einem lebhaften Kontrast zu den bohrenden Gedanken, die Elisa plagten. Inmitten der Blumen entdeckte Elisa ihre eigene Kindheit wieder, Erinnerungen an unbeschwerte Tage, an denen sie ihre Mutter beobachtete, wie sie im Garten mit Hingabe und Liebe arbeitete. An manchen Tagen zog sich Giulia stundenlang hierhin zurück. Meistens blieb sie ungestört. Massimo, ihr Ehemann, interessierte sich nicht für Pflanzen, die man nicht ernten und zu Geld machen konnte, und für Elisa hatte der Garten lange Zeit einen geheimnisvollen Ort bedeutet, an den sie ihre Mutter nicht begleiten durfte.

»Deine Mutter spricht dort mit ihren Pflanzen. Kinder wie du stören dabei bloß«, hatte Anna ihr mit seltsamem Unterton erklärt. Die Worte schlichen sich leise in Elisas Gedanken. Sie schob die Erinnerung weg und breitete die Arme zu den Seiten aus. Beim Gehen ließ sie ihre Finger über die kräftigen Büsche tanzen, genau wie früher, als sie ein Kind war. Der Duft der Blüten umhüllte sie, und sie sog ihn tief in sich ein, als könnte er ihre Sorgen vertreiben. Ein Schmetterling flatterte vor ihr her und zeigte ihr den Weg. Unvermittelt wurde die Idylle von einem Schwarm Sperlinge zerstört, der mit lautem Zirpen über sie hinwegflog und sich lautstark in den nahegelegenen Bäumen niederließ.

»Ihr spinnt wohl! Haut ab!«, hörte Elisa die aufgebrachte Stimme ihrer Mutter. »Das ist kein Spaß!«

Anscheinend hatten die Vögel es auf die prächtig blühenden Sonnenblumen abgesehen, die weiter hinten im Garten blühten. Ein empörtes Tschilpen antwortete ihr. Mit lautem Händeklatschen verscheuchte Giulia die Angreifer. Zeternd zogen diese sich in den angrenzenden Wald zurück, um auf einem der Bäume ihren Beobachtungsposten zu beziehen. In einem günstigen Augenblick würden sie zurückzukehren und es erneut versuchen.

Elisa, die heimliche Ohrenzeugin der ungleichen Auseinandersetzung, seufzte wehmütig. Die wunderschönen Augenblicke in Giulias Garten würde es für sie bald nicht mehr geben. Nach ihrer Hochzeit mit Umberto würde alles anders sein. Bald musste sie Abschied nehmen von allem, was ihr lieb und vertraut war. Zum zweiten Mal an diesem Tag kämpfte sie gegen die aufsteigenden Tränen an.

Der Garten von Giulia war ein wahres Paradies, ein Ort, an dem die Zeit stillzustehen schien und sich die Sorgen des Alltags für eine Weile verflüchtigten. Bunte Blumen wogen sich sanft im Licht der Herbstsonne, ihre leuchtenden Farben reichten von strahlendem Rot und tiefem Blau bis hin zu sanften Gelbtönen. Der Duft von Jasmin und Rosen, süß und betörend, erfüllte die Luft. Ein Hauch von Lebensfreude übertrug sich auf alle, die das Glück besaßen, sich an diesem wunderbaren Ort aufhalten zu dürfen. Auch auf Elisa, die in diesem Moment leise hinzutrat. Ihre Augen glitten über die Pracht, und für einen Moment vergaß sie die Anspannung der bevorstehenden Verlobungsfeier.

»Bist du es, Elisa?« In Giulias Stimme schwang ein Hauch ihres Ärgers über die frechen Sperlinge mit.

»Ja, Mutter. Gratuliere! Du hast die Vögel in die Flucht geschlagen.« Ein kleiner Scherz, der die stets vorhandene Distanz zwischen ihnen füllen sollte. Noch ein, zwei Schritte, dann stand Elisa ihrer Mutter direkt gegenüber. Giulia schnitt Oleanderblüten ab, um sie als Schmuck für die große Festtafel zu verwenden. Sie trug Handschuhe, um sich vor dem giftigen Milchsaft, den die Pflanze absonderte, zu schützen.

»Warum bist du nicht auf deinem Zimmer und ruhst dich aus? Es wird bestimmt anstrengend für dich heute Abend«, fragte Giulia mit einem zerstreuten Lächeln auf den Lippen.

»Ich habe vom Fenster aus gesehen, dass du den Weg hierher eingeschlagen hast, und hatte plötzlich Lust, dir zu folgen. Wenn ich erst fortgezogen bin, wird dies kaum noch möglich sein«, gestand Elisa ihre Befürchtungen.

Giulia schnitt eine letzte Blüte vom Strauch und legte sie zu den anderen in den Korb.

»Umberto ist ein angenehmer und umgänglicher Mensch, der weiß, was sich gehört. Er wird dich nicht daran hindern, uns auch weiterhin zu besuchen.« Giulia zog die Handschuhe aus. Elisa beobachtete sie schweigend.

»So ist das Leben nun einmal, mein Kind. Neue Aufgaben warten auf dich. Bald trägst du die Verantwortung für ...«

»... zwanzig Hausangestellte. Nicht zu vergessen die Gelegenheitsarbeiter, die im Sommer bei der Ernte helfen«, entgegnete Elisa unwirsch. Die Worte fielen wie Steine zu Boden.

»Nun, um die Gelegenheitsarbeiter wird sich ...«, fuhr Giulia fort, wurde aber erneut unterbrochen.

»... Umberto selbst kümmern. Zumindest, was die Anstellung der Leute betrifft. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass sie gut untergebracht sind und regelmäßig zu essen und zu trinken bekommen.« Elisas Stimme wurde schärfer. Die ständigen Instruktionen über ihre Rolle als zukünftige Ehefrau und Hausherrin fühlten sich wie ein Korsett an, das sie umschloss und von dem sie sich mehr und mehr befreien wollte.

Besänftigend berührte Giulia ihre Tochter am Arm.

»Ich verstehe dich, mein Kind. Mehr als du ahnst. An meinem eigenen Verlobungstag konnte ich weder essen noch trinken, so aufgeregt und unsicher fühlte ich mich. Mir war regelrecht übel.«

»Hast du Vater geliebt, Mutter?« Die Frage war Elisa herausgerutscht. Giulias Gesicht schien sich für den Bruchteil einer Sekunde zu verdunkeln, doch im nächsten Augenblick hatte sich ihre Mutter wieder in der Gewalt.

»Wie alle Frauen aus unseren Kreisen habe ich mich der Entscheidung meiner Familie gefügt und den Mann geheiratet, den mein Vater für mich ausgesucht hat. Die Liebe, mein Kind, kommt in der Ehe.«

»Oder nie«, murmelte Elisa mehr zu sich selbst.

»Ich kenne Umberto doch kaum. Was ist, wenn er mich unglücklich macht?«

»Du könntest keinen besseren Mann als Umberto finden. Er verfügt über ein großes Vermögen. Er ist kultiviert. Und er vergöttert dich, das erkennt jeder, der euch zusammen sieht«, versuchte Giulia zu vermitteln.

»Er, er, er. Immer nur er! Was ist mit mir? Kommt es auf mich und meine Gefühle denn gar nicht an?«, brach es aus Elisa heraus.

»Frag nicht nach Liebe, wenn du einen guten Mann haben kannst, Elisa«, rief Giulia ihre Tochter streng zur Ordnung. Allmählich verlor sie die Geduld mit Elisa. Sie nahm ihren Korb und wandte sich ab, um ins Haus zurückzukehren. Für sie als Hausherrin war bis zum Abend noch viel zu erledigen.

Bedrückt blickte Elisa ihrer Mutter nach. Wie zart und zerbrechlich sie wirkte. Giulia war ganz anders als Elisa, die vom äußeren Erscheinungsbild mehr nach ihrem Vater Massimo gekommen war, einem groß gewachsenen Mann von beneidenswert robuster Natur.

Ein unerwarteter Windstoß spielte mit Elisas Rock. Trotz der warmen Temperaturen fröstelte sie. Der Garten mit seinem Überschwang an Farben und Düften trug den Keim des Abschieds.

 

Kapitel 3

 

Drückende Schwüle ließ ein nahendes Gewitter befürchten. Besorgt warf Giulia einen Blick hinauf zum Himmel. Zu ihrer Erleichterung schien keine unmittelbare Gefahr zu drohen. Dennoch wies sie das Personal an, im Haus für ausreichend Sitzgelegenheiten zu sorgen, um es ihren Gästen im Notfall drinnen angenehm machen zu können. Von der Terrasse aus konnte sie den weitläufigen vorderen Garten, der mit ihrem eigenen stillen Rückzugsort nicht vergleichbar war, überblicken. Dieser Teil des Grundstückes diente nach dem Willen des Hausherrn dazu, die gesellschaftliche Stellung der Familie zu unterstreichen. Üppige Blumenbeete, kunstvoll geschnittene Hecken und majestätische Statuen dienten einzig dem Zweck, Besucher zu beeindrucken, und schufen eine Atmosphäre von Reichtum. Zwei Gärtner sorgten für stets akkurat gestutzte Rasenflächen, die kunstvollen Wasseranlagen und die exotischen Pflanzen aus aller Welt. Jeder Bereich des Gartens war mit Bedacht gestaltet, um eine harmonische Einheit zu bilden und den Betrachter in eine Welt der Schönheit und Ruhe zu entführen. Auch an diesem Abend schienen sich alle Anwesenden wohlzufühlen.

Über den eingeladenen Gästen schwebte eine freudige Erwartung. Die Tische, festlich gedeckt mit feinen weißen Tischdecken, waren mit glänzendem Geschirr und den bunten Oleanderarrangements, die Giulia am Nachmittag frisch geschnitten hatte, geschmückt. Der Duft von frisch gebackenem Brot und aromatischen Kräutern entströmte der Küche und mischte sich mit den fröhlichen Gesprächen, die in der Luft lagen.

Giulia, die als Gastgeberin ein wachsames Auge auf alles hatte, bewegte sich in ihrem feinen, bordeauxroten Kleid, das im Kontrast zu ihren sanft gewellten, kastanienbraunen Haaren stand, durch die Menge. Ihre Augen funkelten vor Anspannung und Erwartung. Aber aus ihnen strahlte auch der Stolz, ihr Kind auf der Schwelle zu einer neuen Lebensphase zu sehen.

Im Garten hatten sich herrliche Bilder entfaltet. Frauen in fließenden Kleidern, die elegant glänzten, unterhielten sich in fröhlichen Gruppen. Ihr Lachen erfüllte die Luft. Einige der Damen saßen auf geschwungenen Bänken, die im Schatten der prächtigen Kastanienbäume aufgestellt waren, und flüsterten sich die neuesten Geheimnisse zu. Ihre Hände waren geschmückt mit feinem Glitzerschmuck, und ihre kunstvollen Frisuren glänzten im Sonnenlicht, als wären sie gelackt. Die Männer hingegen fanden sich in kleinen Gruppen zusammen, dem angebotenen Aperitif sprachen sie gerne zu, ebenso wie den Zigarren, die auf einem Tisch für sie bereit lagen. Ihre Anzüge waren sorgfältig gewählt, einige klassisch in dunklem Blau, andere außergewöhnlich in Hellbraun, und jeder von ihnen strotzte vor Vorfreude auf die feierlichen Ansprachen und das darauffolgende Festmahl. Mit erwartungsvollem Lachen und heiteren Alltagsgeschichten schlenderten sie ungestört über die grüne Wiese. Es war eine ausgelassene, fröhliche Stimmung, die sich mit der Freude über das Paar vermischte, das sich an diesem Abend feierlich verloben sollte.

Eine leichte Brise wehte über das Anwesen, als die offizielle Verlobungszeremonie von Elisa und Umberto begann. Die letzten Sonnenstrahlen tauchten den Ort in ein warmes Licht. Unter einem eleganten Pavillon, umgeben von duftendem Jasmin und strahlend weißen Rosen, hatten sich die Gäste versammelt. Das Plätschern eines Brunnens bildete eine beruhigende akustische Kulisse, die die erwartungsvolle Atmosphäre unterstützte.

Elisa, das Herzstück der Feier, strahlte in einem schlichten, aber umwerfenden grünen Kleid, das mit zarten Spitzen und feinen Stickereien verziert war. Der Farbton ihres Kleides hob den warmen Glanz ihres Teints hervor. Ihr Haar war in sanften Wellen gesteckt und mit kleinen weißen Blüten versehen, die im Licht der Sonne leuchteten und ihr ein fast märchenhaftes Aussehen verliehen. Als sie nervös, aber voller Vorfreude den Pavillon betrat, war es, als ob die gesamte Gesellschaft für einen Moment den Atem anhielt, um diesen besonderen Augenblick festzuhalten.

Umberto de Rosa stand an ihrer Seite, in einem eleganten dunkelblauen Anzug, der ihm eine geradezu majestätische Präsenz verlieh. Sein Hemd war frisch gebügelt, und die feine Krawatte, die er gewählt hatte, war von einem tiefen Bordeauxton – eine subtile Note, die den edlen Rahmen der Zeremonie unterstrich. Als er Elisa ansah, blitzten in seinen Augen Stolz und Zuneigung auf. Er war bereit, der Welt zu zeigen, dass er seinen weiteren Lebensweg mit Elisa Valioni an seiner Seite gehen würde.

Massimo, Elisas Vater, trat vor die versammelten Gäste und erhob seine Stimme, um die Feier offiziell zu beginnen. Er war in einen maßgeschneiderten Anzug gekleidet, der seine Autorität und seinen Status widerspiegelte. Auf seinem Gesicht lag ein warmes, aber feierliches Lächeln.

»Lieber Freund, liebe Familie, liebe Freunde«, begann er.

»Heute sind wir nicht nur hier, um die Verlobung meiner Tochter Elisa mit Umberto de Rosa zu feiern, sondern auch, um die Vereinigung zweier Familien zu zelebrieren.« Seine Stimme klang warmherzig und begeistert, während er von der Treue, der Freundschaft und der partnerschaftlichen Liebe sprach, die das Fundament einer Ehe bilden sollten.

»Elisa ist nicht nur meine Tochter, sondern auch ein strahlendes Licht in dem Leben von Giulia und mir. Umberto, ich vertraue dir an, sie in den kommenden Jahren zu beschützen und zu fördern. Möge eure Liebe stets wachsen und mögen die Träume, die ihr gemeinsam hegt, in Erfüllung gehen.«

Die Gäste hörten gebannt zu. Es gab kaum jemanden, der nicht mit einem warmen Gefühl im Herzen dieser Zeremonie beiwohnte. Als Massimo zum Höhepunkt seiner Ansprache kam und das Wort an Umberto übergab, spiegelte sich erwartungsvolle Vorfreude in den Gesichtern der Umstehenden.

Umberto hob den Blick zu Elisa, seine Stimme war fest, doch schüchterne Zärtlichkeit schwang darin mit.

»Ich verspreche dir, Elisa Valioni, dass ich dich in Liebe ehren und respektieren werde, so wie du es verdienst. Gemeinsam werden wir unser Glück, unser Leben, unsere Zukunft gestalten.«

Umbertos Worte ließen die Luft vor Rührung und Glück vibrieren. Als Massimo die Verlobungsringe überreichte und ermutigend auf die beiden schaute, strahlte auch Elisa. Vergessen waren für den Moment ihre Zweifel, ihre Augen glänzten vor Ergriffenheit. Die Verlobung war nicht nur ein Versprechen, sondern auch die Verheißung eines neuen Lebens, das vor ihnen lag. Dankbar lauschte sie dem Applaus ihrer Gäste und den jubelnden Glückwünschen, die ihr und Umberto zuflogen.

Gelächter und unverkennbare Vorfreude mischten sich, als Giulia im Anschluss an die feierliche Zeremonie ihre Gäste bat, an den langen Tischen Platz zu nehmen, um gemeinsam mit ihnen das Abendessen einzunehmen. Der festliche Auftritt der Speisen ließ die Herzen höher schlagen – von der zarten Lammkeule mit Rosmarin und Knoblauch bis hin zu dem verführerischen Obsttörtchen, das hübsch mit frischen Beeren und einem Sahnehäubchen verziert war. Jede Köstlichkeit wurde begeistert mit Genuss verzehrt. Ausrufe wie wunderbar und eine Meisterleistung unterstrichen die Begeisterung der Gäste. Allen hatte es hervorragend geschmeckt. Die Kunst der Köchin war mehrfach gelobt worden. Giulia nahm sich vor, später in der Küche vorbeizuschauen, um die Komplimente weiterzugeben.

Nachdem die Festtafel offiziell aufgehoben worden war, verteilte sich die Gesellschaft zum angenehmen Plaudern im Garten. Einige Gäste nahmen in den Sitzgruppen Platz, die Giulia hatte aufstellen lassen, es waren vorwiegend die Frauen. Die meisten der männlichen Gäste fanden sich im Stehen bei gutem italienischem Weinbrand und Zigarren zusammen.

Auf Giulia wirkte es, als hätte ihre Tochter Elisa ihre Zweifel vom Vormittag abgeschüttelt. In ihrem grünen Seidenkleid bildete sie den strahlenden Mittelpunkt des Festes. Am Arm von Umberto de Rosa schritt sie von einem Gast zum nächsten, um freundlich ein paar Worte zu plaudern. Sie würde nach der Eheschließung ihren Aufgaben als Hausherrin gewachsen sein, registrierte Giulia mit Stolz.

Sie konnte nicht ahnen, dass ihre Tochter sich weniger auf ihre Gäste als vielmehr auf den Mann an ihrer Seite konzentrierte. Immer wieder wanderte Elisas Aufmerksamkeit zu den wenigen Stellen, an denen ihre Körper sich berührten. Noch nie war sie Umberto so nahegekommen. Empfand sie ihn körperlich als unangenehm? Nein, gab sie sich in Gedanken die Antwort. Die Berührung fühlte sich für sie neu und ein wenig aufregend an, was sie mit Blick auf ihre kommenden Pflichten als Ehefrau erleichterte, aber auch verwirrte.
Ihre Begrüßung vor dem Fest war eher höflich und steif verlaufen. Elisa hatte geglaubt, bei Umberto Anzeichen von Nervosität zu bemerken, kannte ihn aber nicht gut genug, um sich sicher zu sein. Zudem hatte es keinen Moment gegeben, in dem sie beide ungestört ein paar Worte miteinander hätten wechseln können. Ihr Vater hatte seinen zukünftigen Schwiegersohn gleich in ein Fachgespräch über die steigenden Getreidepreise verwickelt. Umberto hatte es sich nicht nehmen lassen, in diese Diskussion einzutauchen. Wenig später war es Giulia, die den freundschaftlichen Austausch unterbrach, um dem Brautpaar und Massimo letzte Hinweise für den Abend zu geben. Mit einem fragenden Lächeln hatte Umberto Elisa seinen Arm gereicht, damit sie sich bei ihm unterhakte. Er kümmerte sich um sie mit ausgesuchter Höflichkeit. Inständig hoffte sie, dass sein zuvorkommendes Verhalten mehr war als die bloße Anerkennung von Konventionen.

In einer kleinen Gruppe von Männern, die sie erreichten, fiel Elisa sofort Enrico Marconi auf, der sich als Leiter des örtlichen Krankenzentrums leidenschaftlich über die sozialen Missstände im Land erregte.

»Es muss aufhören, dass die großen Grundbesitzer die kleinen Bauern und Arbeiter wie ihre Leibeigenen ausbeuten. Wir leben schließlich nicht mehr im Mittelalter!«

»Das nenne ich Mut, Signor Marconi! Mit vollem Bauch gegen Grundbesitzer zu politisieren, bei denen Sie zu Gast sind!«, scherzte Umberto scheinbar leichthin, doch Elisa spürte, wie sich seine Armmuskeln unter dem dünnen Stoff seines Gehrockes anspannten.

Überrascht wandte sich Enrico dem jungen Paar zu. Im Eifer der Diskussion hatte er dessen Näherkommen nicht bemerkt. Mit einem höflichen Lächeln bat er um Verzeihung, wurde aber sofort wieder ernst.

»Selbstverständlich waren meine Worte weder gegen Sie noch gegen ihren Herrn Schwiegervater persönlich gerichtet. Im Gegenteil, ich genieße den heutigen Abend aus vollem Herzen. Denn außerhalb dieses kleinen Paradieses hier ist die Realität eine andere. Beinahe täglich muss ich die Wunden von Müttern verarzten, die von der Polizei niedergeknüppelt werden, weil sie auf der Straße für das tägliche Brot ihrer Kinder kämpfen.«

Marconis Worte bedeuteten eine Provokation. Gespannt warteten die Umstehenden auf Umbertos Reaktion, der sich verzweifelt darum bemühte, die heitere Atmosphäre des Festes zu bewahren. An seiner Seite lauschte Elisa fasziniert. In der Schule für höhere Töchter, die sie besucht hatte, standen politische Diskussionen nicht auf dem Stundenplan, sie hatte sich mit Themen wie der Führung eines Haushaltes, mit Musik, Kunst und Gartenpflege beschäftigt. Die schwelenden Konflikte im Land hatten sie bislang nicht berührt. Doch der Sarkasmus in Marconis Worten über den sozialen Zustand der Nation blieb ihr nicht verborgen. Als er zu Elisa hinübersah und eine Verbeugung andeutete, fühlte sie sich vor ihm unwissend und bedeutungslos.

Vor ein paar Stunden erst musste ich einer jungen Frau, die etwa Ihr Alter hat, Signorina Valioni, beibringen, dass das Kind, das sie in ihren Armen trug, tot war. Es ist verhungert, weil der völlig entkräftete Körper der Mutter nicht dazu in der Lage war, genügend Milch zu produzieren.«

»Ich schlage vor, dass wir dieses Gespräch bei einer besser geeigneten Gelegenheit fortsetzen, Signor Marconi. Der heutige Anlass ist viel zu heiter, um ihn mit Politik zu verderben.« Umbertos beschwörender Blick wanderte von Marconi zu Elisa, die sichtlich betroffen wirkte.

»Entschuldigen Sie bitte, Signorina Valioni.« Marconi deutete erneut eine Verbeugung an.

»Ihr Verlobter hat selbstverständlich recht. Heute Abend gibt es Wichtigeres als die Not in unserem Heimatland.« Aus Marconis Worten triefte der Sarkasmus. Er suchte Elisas Blick und hielt ihn fest.

Die unerwartete Wendung des Gesprächs schockierte Elisa. Sie brachte kein einziges Wort heraus.

»Wenn ich Ihnen eines zur Verlobung schenken möchte, Signorina Valioni, dann die Erkenntnis, dass die Tagelöhner, die von weit her kommen, um für Sie zu arbeiten, einen gerechten Lohn verdienen. Damit sie ihre Familien ernähren können und kein unschuldiges Kind mehr aus Not sterben muss.«

»Sie vergessen sich, Marconi!« Massimos Stimme donnerte dazwischen. Unbemerkt hatte er beim Näherkommen die Szene beobachtet. Nun hielt er es für geboten, persönlich einzugreifen. Obwohl Marconi deutlich jünger war als er, packte Massimo ihn am Kragen seines Gehrockes. Wutentbrannt schüttelte er den Gast. Umberto brachte Elisa in Sicherheit, indem er sie mit sich fort aus der Reichweite der Kontrahenten zog.

»Was fällt Ihnen ein! Ausgerechnet am Verlobungstag meiner Tochter! Ich dulde keine Anarchisten unter meinen Gästen!«

Marconi befreite sich, doch auf Massimos Wink hin, waren sofort zwei seiner Leute an Marconis Seite. Zum Zeichen, dass er keinen Widerstand leisten würde, hob Marconi beide Hände.

»Keine Angst, ich gehe freiwillig. Aber nicht jeder, der ein Herz für unsere notleidende Bevölkerung hat, ist ein Anarchist. Wie steht es um Ihr Herz, Valioni? Haben Sie eins?«

»Weg! Weg! Ich will den Kerl nicht mehr sehen. Schafft ihn mir aus den Augen!« Vor Aufregung kippte Massimos Stimme. Seine Hand fuhr hoch zu seiner Brust, als befürchtete er, jeden Moment einen Herzanfall zu erleiden. Marconi bemerkte es nicht. Er hatte sich bereits zum Gehen abgewandt. Massimos Männer begleiteten ihn, bis er das Grundstück verlassen hatte.

»Geht es dir gut, Vater?« Erschrocken löste sich Elisa aus Umbertos Arm und lief hinüber zu Massimo, um ihm beizustehen. Mit einer abwehrenden Handbewegung verhinderte er, dass sie ihm zu nah kam. Auf keinen Fall wollte er vor den Augen seiner Gäste Schwäche zeigen.

»Nicht, Elisa. Mir geht es gut. Kümmere dich lieber um deine Gäste. Dieser verdammte Anarchist hat schon mehr Aufmerksamkeit erzielt, als er verdient.« Drohend musterte Massimo die drei jungen Männer, mit denen Marconi kurz zuvor zusammengestanden und diskutiert hatte. Gebannt hatten sie an Marconis Lippen gehangen.

»Wie steht es mit Ihnen? Gehören Sie auch zu dieser Bande, die glaubt, dass wir Großgrundbesitzer für alles Elend in der Welt allein verantwortlich sind?«

»Aber nein, Signor Valioni.«

»Hätten wir geahnt, in welche Richtung sich das Gespräch entwickeln würde ...«

Massimo ließ sie stehen, ohne das Ende ihrer Erklärungen abzuwarten. Niemand von ihnen war Manns genug, um ihm die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, das erkannte er auf den ersten Blick. Kaum jemand wagte es, sich mit Massimo Valioni anzulegen. Er verfügte über genügend Macht und Ansehen, um seinen Gegnern ernsthaft zu schaden. Ein vorbeikommender Kellner bot frische Getränke an. Massimo bediente sich. Das erste Glas leerte er in einem Zug, ein zweites nahm er für den Genuss.

Umberto bot seiner Verlobten erneut seinen Arm an, damit sie sich bei ihm einhaken konnte, doch sie schien seine Geste nicht wahrzunehmen. Die eindringlichen Worte Marconis beschäftigten sie.

»Was hat Signor Marconi gemeint, als er sagte, wir sollen unsere Tagelöhner gerecht bezahlen? Tun wir das denn nicht ohnehin?«

Auf Umbertos Stirn bildete sich eine steile Falte.

»Ich hoffe für dich, meine Liebe, dass du niemals in die Situation kommst, dir über diese und ähnliche Fragen, die die Arbeit auf meinem Gut betreffen, Gedanken machen zu müssen. Dies würde nämlich bedeuten, dass ich dazu nicht mehr in der Lage wäre. Und heiraten wir nicht auch deshalb, damit du dich getrost auf mich verlassen kannst?«, antwortete er steif.

Seine zurückweisende Bemerkung verärgerte Elisa.

»Signor Marconi hat mich vorhin direkt angesprochen. Es schien ihm wichtig zu sein.«

»Marconi ist nicht gut für uns, meine Liebe. Du solltest dich von ihm fernhalten. Und schon gar nicht auf ihn hören.«

»Nicht gut für uns?« Sie begriff nicht, worauf er hinaus wollte.

»Immerhin war er Gast der Familie, bevor Vater ihn rausgeworfen hat.«

»Enrico Marconi leitet das Gesundheitszentrum, wie du weißt. Diese Position verleiht ihm ein gewisses Ansehen. Es wäre unhöflich gewesen, ihn nicht einzuladen. Doch er hat seine Rolle als Gast missbraucht, um gegen uns zu agitieren. Dein Vater hat sich zu recht aufgeregt.«

Elisas Blick wanderte über ihre Gäste, die sich längst alle wieder zu amüsieren schienen. Ohnehin war es fraglich, wer von ihnen den Zwischenfall mit Marconi bemerkt hatte.

»Mir geht nicht aus dem Kopf, was er gesagt hat, Umberto. Sieh dich um. Wir haben mehr als genug. Von allem. Wie kann es sein, dass nicht weit von uns entfernt kleine Kinder vor Hunger sterben?«

»Vergiss, was er gesagt hat, Elisa. Ich bitte dich! Marconi ist gefährlich. Er meint, was er sagt, aber seine Wahrheit ist einseitig. Die Menschen, die für uns arbeiten, leben von dem Lohn, den wir ihnen zahlen. Ohne die Arbeit für uns besäßen sie noch weniger zum Leben.«

Erneut hielt er Elisa seinen Arm hin, damit sie sich bei ihm einhakte. Dieses Mal folgte sie der Aufforderung.

»Glaubst du, dass Marconi ein Anarchist ist, wie Vater sagt?«

Insgeheim verfluchte Umberto diesen Marconi, weil er seiner jungen Braut die Unbeschwertheit der eigenen Verlobungsfeier genommen hatte. Ihre Hartnäckigkeit, den Dingen auf den Grund zu gehen, nötigte ihm aber auch Respekt ab.

»Ich weiß es nicht«, erklärte er ehrlich.

»Marconi ist selbst Mitglied einer angesehenen Familie, die Land besitzt. Allerdings ist er nur der zweitgeborene Sohn. Das Land erbt sein älterer Bruder.«

»Immerhin hat sein Vater Söhne. Mein Vater hat nur mich.« Überrascht über die unerwartete Wendung des Gespräches suchte Umberto ihren Blick, doch Elisa wich ihm aus.

»Wenn mein Vater einen Sohn hätte, der das Gut nach seinem Tode übernehmen könnte, wäre er bestimmt glücklicher. Nun ist er gezwungen, sein Erbe in die Hände eines Mannes außerhalb der Familie zu legen und darauf zu hoffen, dass dieser es zu respektieren weiß. Ich bin dabei nichts weiter als ein Bindeglied.«

Ihre Worte verletzten ihn. Unwillkürlich ging er auf Distanz zu ihr.

»Zweifelst du etwa an meinen ehrbaren Absichten? Ich würde niemals etwas tun, was den Interessen deines Vaters zuwiderlaufen könnte.«

Impulsiv griff Elisa nach Umbertos Hand und hielt sie fest.

»Empfindest du etwas für mich, Umberto?« , fragte sie. Sie spürte, wie seine Finger bei ihrer Frage zurückzuckten, doch sie ließ nicht locker.

»Was empfindest du für mich, Umberto?«, drängte sie.

Ihre Frage berührte Umberto peinlich. Was erwartete seine junge Verlobte von ihm? Eine Liebeserklärung in der Öffentlichkeit? Vor den Augen der Festgesellschaft? Bislang hatten sie kaum Zeit miteinander verbracht, ohne dass mindestens eine weitere Person als Aufpasserin anwesend war wie es die Konventionen erforderten. Was verlangte sie von ihm? Wie sollte er sich über die Gefühle, die er ihr entgegenbrachte, im Klaren sein? Elisa war nett und hübsch. Er versprach sich viel von ihrer Verbindung. Aber Liebe? War dieses Wort nicht viel zu groß, um zu benennen, was sie verband?

»Wir werden heiraten, Elisa. Alles Weitere wird sich zeigen.« Steif versuchte er, sich aus der für ihn unangenehmen Situation zu befreien.

Seine Worte trafen Elisa unerwartet hart. Sie fühlte sich von ihm wie ein Kind gemaßregelt, doch entschieden kämpfte sie gegen das Gefühl der Enttäuschung an, das sich in ihr ausbreitete. Sie hatte ihn herausgefordert. Nun musste sie mit seiner ehrlichen Antwort leben.

»Wahrscheinlich hast du recht, Umberto. Wir werden heiraten und uns ein Leben lang aneinanderbinden. Deshalb sollte jeder von uns wissen, mit wem wir es zu tun bekommen«, erklärte sie mit fester Stimme, ohne seinem genervten Blick auszuweichen.

»Was gebt ihr beide doch für ein schönes Paar ab!« Dröhnend ertönte in diesem Augenblick hinter ihnen die Stimme von Massimo Valioni. Er schien sich von seinem Schwächeanfall gut erholt zu haben, doch Elisa bemerkte, dass seine Augen gerötet waren. Wie immer, wenn er dem Weinbrand allzu häufig zusprach. Gönnerhaft ließ Massimo seine schwere Hand auf Umbertos rechte Schulter krachen. Obwohl Umberto kleiner und schlanker als sein zukünftiger Schwiegervater war, zuckte er nicht mit der Wimper.

»Das Kompliment der Schönheit gebührt allein Ihrer Tochter, Signor Valioni«, erwiderte er steif. »Elisas Glanz bereichert das Auftreten eines jeden Mannes.«

Massimo Valioni brach in schallendes Lachen aus.

»Sie können getrost den Stock aus dem Allerwertesten nehmen, mein lieber Herr Schwiegersohn. In unserer Familie spricht man offen und ohne künstliches Geschwurbel.« Amüsiert wandte er sich an seine Tochter.

»Habe ich es dir nicht gleich gesagt, Elisa? Mit Umberto erhältst du einen richtigen Charmeur zum Ehemann. Du kannst dich wirklich glücklich schätzen.«

Seine Tochter verzog ihre Lippen zu einem gequälten Lächeln. Wenn Elisa die Wahl gehabt hätte, wären ihr ein paar Minuten mehr allein mit Umberto lieber gewesen als die rustikale Unterbrechung durch ihren Vater. Dieser schien nicht zu bemerken, dass er störte. Vertraulich legte er seinen Arm um die Schultern seines zukünftigen Schwiegersohnes. Ohne ein Wort der Entschuldigung zog er ihn mit sich fort. Elisa blieb das Nachsehen.

»Umberto, wie denken Sie über die Sozialisten? Wie bekommen wir die Gefahr in den Griff?«, hörte Elisa ihren Vater ohne Übergang fragen.

Würde sich Umberto zum Abschied wenigstens nach ihr umdrehen? Elisa wartete vergeblich. Erneut bemühte sie sich, die aufsteigende Enttäuschung zurückzudrängen. Je früher sie lernte, ihre eigenen Gefühle zu beherrschen, desto besser würde ihre Ehe gelingen, erkannte sie ohne jede Illusion.

Sie schlug den Weg zum Haus ein, um dort die Toilette aufzusuchen und sich ein wenig frisch zu machen. In einer der Sitzgruppen, an denen sie vorbeikam, entdeckte sie ihre Mutter Giulia, die sich angeregt mit ihren verheirateten Freundinnen unterhielt. Mit einem Wink bat sie ihre Tochter, sich zu ihnen zu gesellen. Doch Elisa signalisierte ihr, erst später hinzuzukommen. Mit raschen Schritten lief sie die Treppe hinauf, die in den großen Salon führte. Sie hatte die oberste Stufe gerade erreicht, da weckte das dröhnende und andauernde Gehupe eines herannahenden Automobils ihre Aufmerksamkeit. Wie die meisten der Gäste wartete Elisa gespannt, was es mit dem Lärm auf sich hatte, während der Fahrer das Automobil die breite Auffahrt hinauf lenkte. Carlo Riva, der Chefredakteur und Eigentümer der örtlichen Zeitung, sprang aus dem Wagen.

»Es wurde soeben gemeldet.« Mit dem Unterarm wischte er sich den Straßenstaub aus dem Gesicht. Die Bewegung hinterließ dreckige Schlieren auf seinem Jackenärmel.

»Kaiserin Sissi von Österreich wurde ermordet. In der Schweiz. Der Täter war schon wieder ein italienischer Anarchist.«

Es war der 10. September 1898. Bis zum Ende ihres Lebens würde Elisa die Ereignisse an diesem Tag nicht vergessen.

 

Kapitel 4

 

Die heitere Stimmung des Verlobungsfestes war verflogen. Die Nachricht vom Tod der glamourösen Kaiserin von Österreich legte sich wie ein dunkler Schatten über die Festgesellschaft. Wie sollten sie fröhlich weiterfeiern mit dieser traurigen Nachricht in den Köpfen? Giulia hielt es für angebracht, auf den für den Abend vorgesehenen Tanz zu verzichten. Massimo und das junge Verlobungspaar stimmten ihr zu. Die eigens engagierte Tanzkapelle wurde ohne Auftritt mit dem vereinbarten Entgelt nach Hause geschickt.

Die meisten der Gäste fanden sich in Gruppen zusammen, um ihr Entsetzen und ihre Empörung über die schreckliche Tat mit anderen zu teilen. Nur wenige hielten sich abseits, um sich alleine ihre Gedanken zu machen.

Die Männer hatten sich um Massimo Valioni und Umberto de Rosa versammelt. Die Großgrundbesitzer sorgten sich um die politischen und wirtschaftlichen Folgen des feigen Attentats.

»Massimo, ich kann deine Sorgen gut nachvollziehen«, versicherte Umberto geduldig. »Doch wir sollten uns bewusst machen, dass die politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen des Attentats gravierender sein könnten, als wir es uns vorstellen. Ein weiterer Mord durch einen italienischen Anarchisten – wie in Paris, Mondragón oder Genf. Meint ihr ernsthaft, Europa wird das einfach hinnehmen? Wenn das so weitergeht, werden wir alle die Folgen spüren.«

Massimo schüttelte kämpferisch die Faust. »Aber was können wir Großgrundbesitzer dagegen tun, Umberto? Zuschauen, während unsere eigene Regierung nichts unternimmt? Diese Unentschlossenheit ist unerträglich! Die Menschen da oben müssen endlich erkennen, dass es ernst ist! Wir müssen gegen diese Anarchisten konsequent vorgehen. Wenn nötig mit Gewalt.«

»Ich teile deinen Unmut, Massimo, das weißt du«, entgegnete Umberto und versuchte, Massimos Blick zu halten. »Aber wir dürfen die Lage in Mailand nicht vergessen. Tausende gingen dort gegen die steigenden Brot- und Weizenpreise auf die Straße. Der Aufstand wurde blutig niedergeprügelt, und was haben wir als Ergebnis? Nur noch mehr Unzufriedenheit und Zorn. Glaubst du nicht, dass wir mit Gewalt die Situation bloß weiter verschärfen?«

»Und ich bleibe dabei: Die Regierung muss Härte zeigen. Konsequent und entschlossen,« widersprach Massimo mit finsterer Miene. Es gefiel ihm nicht, dass ihm sein zukünftiger Schwiegersohn in einer solch wichtigen politischen Frage vor den Umstehenden Kontra bot.

Umberto straffte seinen Rücken. »Wir müssen vor allem besonnen handeln. Die Menschen sind in der ganzen Nation auf den Straßen. Enrico Marconi hat recht, es brodelt in den unteren Schichten. Wir müssen Wege finden, um die Spannungen abzubauen, anstatt sie zu verschärfen.«

»Was ist mit dem König? Es war seine Aufgabe zu handeln«, entgegnete Massimo mit geschwollener Zornesader auf der Stirn.

»Ich vermute, dass er persönlich darauf drängt, die Lage nicht weiter eskalieren zu lassen. Wir sitzen alle auf einem Pulverfass. Nicht auszudenken, wenn es explodiert.«

Massimo schnaubte verächtlich durch die Nase. Ein schweres Schweigen legte sich über die Runde, während die Männer nachdachten. Als frische Getränke und Zigarren gereicht wurden, griffen sie erleichtert zu.

Auch für die anwesenden Damen gab es zunächst kein anderes Thema als das Attentat, allerdings stand in ihren Gesprächen die unglückselige Kaiserin im Mittelpunkt. In das Mitleid für die Ermordete mischten sich schnell einige kritische Stimmen. Wo war Elisabeth getötet worden? In Genf? Was hatte sie schon wieder im Ausland zu suchen?

»Eine Frau gehört an die Seite ihres Mannes, erst recht, wenn es sich bei diesem um den Kaiser von Österreich handelt«, urteilte Giulia Valioni.

Diese ständigen Reisen, die Elisabeth allein kreuz und quer durch Europa unternommen hatte, lediglich in Begleitung ihres Hofstaates, schickten sich nicht in ihren Augen und waren überdies in höchstem Maße gefährlich, wie sich nun leider bestätigt hatte. Der arme Kaiser, vielleicht hätte er sich damals doch für eine andere Ehefrau entscheiden sollen, aber wie man hörte, schien ihn die junge Elisabeth mit ihrer Schönheit regelrecht verzaubert zu haben, pflichtete ihr jemand anderes bei.

Elisa war eine der wenigen, die sich nicht an der leidenschaftlichen Diskussion beteiligten. Weder hatte sie sich vor diesem Abend konkrete Gedanken über das politische Ansehen Italiens gemacht, noch interessierte sie das private Leben der Kaiserin. Es war ihr vielmehr eine Erleichterung, dass die aufwühlende Nachricht vom Attentat sie und Umberto schlagartig aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit genommen hatte. Die Rolle der stets strahlenden Braut hatte sie ermüdet, und sie nutzte die Gelegenheit, sich unbemerkt ins Haus zurückzuziehen.

Auf ihrem Weg durch den Salon bemerkte sie, dass zwei Hausangestellte die leeren Platten vom Buffet abräumten. Eine dritte Person wischte mit einem sauberen Küchentuch die Krümel vom Tisch. Die leeren Buffets weckten in Elisa ein quälendes Hungergefühl. Vor Aufregung hatte sie von dem vielgepriesenen Festmahl kaum einen Bissen hinunter bekommen. Entschlossen schlug sie den Weg zum Küchentrakt ein, der durch einen langen Gang mit dem Hauptgebäude verbunden war. Berta, die Köchin, würde sicherlich etwas Essbares für sie haben.

Bereits von weitem hörte sie Bertas vertraute Stimme.

»Wenn ihr mich fragt, sage ich euch: Eine Frau gehört an die Seite ihres Mannes. Ohne Wenn und Aber, besonders wenn sie eine Kaiserin ist«, erklärte sie energisch, ohne zu ahnen, dass Elisas Mutter vor wenigen Minuten eine ähnliche Meinung geäußert hatte. »Es gehört sich einfach nicht, den eigenen Mann ständig allein zu lassen.«

»Aber deshalb darf man sie doch nicht wie ein Tier auf offener Straße abstechen«, wagte das neue Küchenmädchen mit zitternder Stimme zu widersprechen.

»Überall passieren Attentate. Aber zum ersten Mal ist eine Frau das Opfer. Die Sitten verrohen«, mischte sich Sebastiano, der erste Diener des Hauses, mit düsterem Unterton ein.

»Erinnert ihr euch nicht mehr? Das Attentat auf unseren König Umberto im vergangenen Jahr? Es ist ein Wunder, dass er noch lebt. Aber wer kann schon mit Sicherheit vorhersagen, ob es bei diesem Versuch bleibt? Früher oder später werden die Attentäter vielleicht erneut zuschlagen.«

»Sebastiano! Wie redest du denn?«

Keiner in der Küche hatte Elisas Eintreten bemerkt. Augenblicklich verstummte das Gespräch, und die Anwesenden warteten respektvoll darauf, was die Tochter des Padrone sagen würde.

»Warum töten diese Menschen? Ich verstehe es nicht. Uns geht es doch allen gut.« Die eindringlichen Worte Enrico Marconis über die Not in der Bevölkerung schwirrten Elisa im Kopf herum. Zwar hatte er von den Tagelöhnern auf den Feldern gesprochen, aber was war mit den Dienstboten, die fest für ihre Familie arbeiteten? Verunsichert suchte ihr Blick Berta, die seit jeher über die Küche herrschte, und Sebastiano, den verlässlichen Helfer ihrer Mutter.

»Euch geht es doch auch gut. Oder habt ihr Grund zur Klage? Zahlen meine Eltern euch etwa nicht genug? Dann sagt es mir bitte.«

Sebastiano warf allen, die sich in der Küche aufhielten, einen warnenden Blick zu. Für das Personal auf dem Gutshof lagen Freude und Leid nah beieinander. Wer im Hause der Valionis eine Anstellung fand, war anfangs stolz und erleichtert, besonders weil Giulia besser bezahlte als viele Nachbarn. Dennoch war die Arbeit kein Zuckerschlecken. Die Herrschaften waren anspruchsvoll. Spät abends reichten die verbliebenen Kräfte gerade noch aus, um erschöpft ins eigene Bett und in einen bleiernen Schlaf zu fallen. Am folgenden Morgen begann die Arbeit vor dem ersten Hahnenschrei aufs Neue. Vor allem die jüngeren unter den Hausangestellten haderten in kraftlosen Momenten über ihr Schicksal als Leibeigene, wie sie es bitter nannten. Dennoch wagte niemand, offen aufzubegehren. Denn anderswo standen die Menschen Schlange für eine bezahlte Arbeit. Eine sichere Anstellung wie bei den Valionis war in diesen Zeiten Gold wert.

Sebastiano legte von seinem Lohn regelmäßig Geld für seine verwitwete Schwester und deren minderjährige Töchter zurück, die auf ihn angewiesen waren. Er bemühte sich, die Situation zu entschärfen.

»Ich denke, ich kann im Namen aller hier Anwesenden sagen, dass wir uns Ihrer Familie tief verbunden fühlen, Signorina Valioni. Wir beklagen uns nicht.«

Elisa sah ihn nachdenklich an. Bei aller Unerfahrenheit war sie nicht dumm. Sie war lediglich nicht daran gewöhnt, über das Leben der Menschen nachzudenken, die für ihre Eltern arbeiteten. Für sie gehörten Sebastiano, Berta und viele andere wie selbstverständlich zu ihrem Haushalt, zu ihrer Familie. Sie spürte, dass Sebastiano es aus einem ihr unbekannten Grund vermied, direkt auf ihre Frage zu antworten. Da jedoch niemand sonst das Wort ergriff, beschloss sie, das Thema fallen zu lassen. Plötzlich meldete sich ihr leerer Magen lautstark zu Wort.

»Oh weh.« Sie presste ihre Hand auf den Bauch. »Hast du vielleicht noch eine Kleinigkeit zum Essen für mich, Berta? Egal was?«

Bertas verschlossene Miene entspannte sich, und verständnisvoll verzog die Köchin ihre Mundwinkel zu einem breiten Lächeln. »Aber sicher, Signorina Elisa.«

Auf ihren Wink hin nahm das neue Küchenmädchen einen großen Teller von dem hohen Regal und verschwand in den angrenzenden Kühlraum. Als sie zurückkam, türmten sich frisch geschnittene Scheiben zarten Parmaschinkens, saftige Feigen und köstliche Weintrauben auf dem Teller.

»Du hast keinen Käse aufgetragen, du dummes Ding!«, schimpfte Berta auf das Mädchen. »Und die Panna cotta fehlt auch!« Verärgert riss sie den Teller an sich, doch Elisa hielt sie zurück.

»Lass gut sein, Berta. Der Teller ist perfekt für mich. Mehr kann ich so spät ohnehin nicht essen.«

»Sind Sie sicher, gnädiges Fräulein?« Berta warf dem Küchenmädchen einen finsteren Blick zu.

»Ja, das bin ich.« Auffordernd streckte Elisa die Hand nach dem Teller aus. Nach kurzem Zögern gab Berta ihn heraus.

»Lassen Sie es sich schmecken, Signorina Elisa.«

»Vielen Dank.« Der Hunger quälte Elisa so sehr, dass sie den gefüllten Teller eine Spur zu hastig an sich riss. Der Anblick der Köstlichkeiten ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Schnell wandte sie sich ab und ging zur Tür. Doch auf der Schwelle drehte sie sich ein letztes Mal um.

»Ich möchte mich bei euch für die viele Arbeit, die ihr heute geleistet habt, bedanken. Es war ein wunderschönes Fest, an das ich mich noch lange erinnern werde«, sagte sie, mit einem feuchten Schimmer in den Augen.

Mit raschen Schritten verließ sie die Küche, den verlockenden Duft der Speisen und die Menschen, denen sie sich nahe fühlte, weil sie auf dem Gutshof eine Gemeinschaft bildeten, hinter sich lassend. Ihr erster Impuls war, zurück in den Garten zu ihren Gästen zu gehen. Doch sie zögerte. Wer würde sie vermissen, wenn sie sich aus der Gesellschaft zurückzog? Die Ereignisse hatten sich dramatisch gewandelt. Längst stand nicht mehr ihre Verlobung mit Umberto im Mittelpunkt des Abends, sondern die angespannte politische Lage in Italien und der Welt. Zudem verspürte sie eine erdrückende Müdigkeit. In der Nacht zuvor hatte sie sich vor Aufregung ruhelos in ihrem Bett herumgewälzt. Nun, da sich ihre innere Anspannung allmählich legte, sehnte sie sich nach einem Moment der Ruhe.

Einem Impuls folgend entschied sie sich für den Hinterausgang der Dienstboten und Lieferanten. Ein Steinweg führte von dort zur Vorderseite der Villa, während ein schmaler Pfad in die entgegengesetzte Richtung am Garten ihrer Mutter vorbeiführte und in den angrenzenden Wald mündete. Diesen Weg wollte sie nehmen, um ihr Essen auf einer der Bänke in der kühlen Abendluft einzunehmen.

Erst als sie den erleuchteten Teil des Anwesens verließ, wurde ihr bewusst, dass die Dunkelheit bereits hereingebrochen war. Anders als im vorderen Bereich, wo festliche Lichter hell erstrahlten, war der hintere Teil des Gartens in ein tiefes Dunkel gehüllt. Je weiter sie sich vom Haus entfernte, desto unheimlicher wurde die Stimmung. Sie blieb stehen und lauschte. Aus dem vorderen Garten schwappten die gedämpften Stimmen der Menschen zu ihr herüber und vermischten sich mit dem Gesang der Zikaden. Ein flüchtiger Zweifel überkam sie – sie sollte bei den anderen sein – doch diesen Gedanken wischte sie schnell beiseite. Tief sog sie die würzige Abendluft in ihre Lunge. Sie schloss die Augen und genoss den Augenblick.

Das Knacken eines Zweiges schreckte sie auf. Sie riss die Augen auf. Im Licht des Mondes glaubte sie für den Bruchteil einer Sekunde, die Umrisse eines Menschen auszumachen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie hielt den Atem an. Angestrengt starrte sie in die Dunkelheit. Ihr Herz hämmerte wild. Wer war nachts in diesem einsamen Teil des Gartens, ohne sich erkennen zu geben?

»Hallo? Ist da jemand?« Ihre Stimme klang dünn und verletzlich in der Nacht. Sie lauschte. Kein verdächtiges Geräusch war zu hören. Hatte sie sich getäuscht? Elisa fühlte sich plötzlich nicht mehr sicher. Mehr laufend als gehend machte sie sich auf den Rückweg und atmete erleichtert auf, als sie das schützende Haus endlich erreicht hatte. Sorgfältig achtete sie darauf, dass hinter ihr die Haustür ins Schloss fiel und nicht etwa einen schmalen Spalt offenblieb. Manchmal klemmte die Tür auf dem Steinfußboden, was das Schließen erschwerte.

Aus dem Küchentrakt hörte sie Schritte nahen. In einem Reflex eilte Elisa die Treppe ins Obergeschoss hinauf, um einer unerwünschten Begegnung zu entkommen. Man würde sich wundern, weshalb sie sich nicht längst wieder unter ihre Gäste gemischt hatte. Auf ihrem Zimmer stellte sie den Teller mit Essen ab, den sie immer noch in der Hand hielt, bevor sie mit klopfendem Herzen von innen den Schlüssel im Schloss herumdrehte und sich einschloss. Vor ihrem Fenster flatterten die leichten Gardinen im Wind, als wollten sie ihren Blick auf eine Außenwelt lenken, die außerhalb ihrer Kontrolle lag – unbekannt und bedrohlich.